Erneut habe ich für die HR-Pioneers einen Gastbeitrag verfasst, welchen ich hier natürlich nicht vorenthalten möchte. Der Begriff des chronisch aufgetauten Systems beschreibt eine Organisation, welche durch ständige Anpassung und Wandel dabei ist ihre Identität zu verlieren. Die Folge sind Unruhe, Rastlosigkeit, Ermüdung sowie Angst vor Entscheidungen. Ist also der Drang nach immer mehr Flexibilität ein falscher Freund des agilen Wandels in Unternehmen?
Der Eiswürfel in der Pfanne
Stellen Sie sich ein Unternehmen mit klassischem Aufbau als eine Art Eiswürfel in einer Pfanne vor. Seine Strukturen sind erstarrt. Auf Anforderungen von Aussen, kann dieser Würfel nur sehr langsam reagieren. Ähnlich wie ein Gletscher, welcher sich über Jahrhunderte den Weg ins Tal bahnt.
Nehmen wir nun an, wir erhitzen die Pfanne. Kurz darauf treten erste Risse in der Oberfläche des Würfels auf. Unter dem Würfel beginnt es zu zischen und zu sprudeln. Das Eis verflüssigt sich zunehmend und passt sich dabei seiner Umgebung an. Prozesse und Teams geraten zunehmend in Fluss. Unausweichlich verliert der Würfel durch Verdampfung an Masse.
Hat der Eiswürfel fast vollständig seine Form verloren, kommt in seinem Wandel der Wendepunkt. Die neue Form muss sich wieder festigen. Hier setzt der Begriff des chronisch aufgetauten Systems des Organisationstheoretikers Karl Weick an. Das erneute einfrieren der Strukturen ist nicht mehr möglich bzw. gewollt. Zu groß ist die Angst erneut in alte Gewohnten zurückzufallen. So verbleibt der Eisblock in seinem veränderten Aggregatzustand.
Das chronisch aufgetaute System
Nach Weick sind Organisationen sinnerzeugende Systeme, welche diesen Sinn immer aus kontinuierlichem Rückblick ihrer eigenen Geschichte generieren. Reift bei diesem Rückblick, grob gesagt, die Erkenntnis, sich nicht auf die Vergangenheit und die damals getroffenen Entscheidungen verlassen zu können, stürzt sich das System in eine Sinnkrise.
Diese Sinnkrise führt zu einer Destabilisierung des Unternehmens. Ein Mitarbeiter, welcher vorher noch über klare Ziele der Organisation und einen Ist/Soll Abgleich seine Arbeit überprüfen konnte, wagt es nun aufgrund von Unsicherheit und Angst nicht mehr selbstständig Entscheidungen zu treffen. Die Organisation ist handlungsunfähig.
Das beschriebene Szenario zeigt den Worstcase einer organisatorischen Veränderung. Ausgangspunkt ist der Wunsch flexibler auf Anforderungen des Marktes reagieren zu können. Doch wieviel Agilität und Flexibilität kann ein Unternehmen überhaupt vertragen?
Nutzen von Berechenbarkeit
Unternehmen müssen in gewisser Weise berechenbar bleiben. Berechenbar deswegen, damit sich ihre Mitarbeiter an Zielen und Vorhaben mittel- bis langfristig orientieren können. Zudem dürfen in der Vergangenheit getroffene Entscheidungen zwar hinterfragt aber nicht vollständig als falsch verworfen werden. Schließlich wurden sie damals nach besten Wissen und Gewissen getroffen.
Der agile Wandel hat also weniger die Aufgabe das komplette Unternehmen in ständige Unruhe zu versetzen. Vielmehr geht es darum, Instrumente und Werkzeuge zu schaffen, welche der Organisation die Möglichkeit bieten mit Veränderungen konstruktiv umgehen zu können. Das heißt so zu reagieren als wäre das Unternehmen noch aufgetaut aber ohne den Verlust von Rückhalt, Stabilität und Identität.
Natürlich können hier Scrum, Kanban und andere Methoden Ihren Beitrag leisten. Der Mensch neigt allerdings dazu Unsicherheit und Angst durch Methodik eliminieren zu wollen. Dazu müßte aber die jeweilige Methodik jegliche Faktoren der Realität berücksichtigen. Methodik beruht aber meist auf einer Vereinfachung der Wirklichkeit. Somit kann die von der Realität ausgehende Unsicherheit niemals vollständig kompensiert werden.
Kultur als Werkzeug
Das beste Instrument, um das zukünftige Überleben des Unternehmens sicherzustellen, ist die Kultur. Mit der richtigen Arbeitskultur der Mitarbeiter lässt sich eine Mischung aus Starre und Flexibilität realisieren. Das Unternehmen kann wieder eingefroren werden.
Diese Kultur wird durch die Wertvorstellungen und das Verhalten der Mitarbeiter verkörpert. Es hängt von der Einstellung des einzelnen Mitarbeiters ab, ob eine Veränderung als positiv oder negativ wahrgenommen wird. Es hängt davon ab, ob nach der perfekten Lösung gesucht wird oder ob man sich dieser lieber schrittweise nährt. Auch ist die Akzeptanz von Fehlern im Lernprozess ist elementar. Letztendlich geht es um die Überwindung von Angst. Angst natürlich kann ein Triggerpunkt sein, um eine organisatorische Veränderung zu beginnen, sollte aber im Laufe dieser Veränderung überwunden werden.
Eine Kultur, welche einen Mix zwischen Stabilität und Flexibilität findet, verkörpert die folgenden Werte:
- Grundsätzlich können wir alle Probleme lösen!
- Wir haben keine Angst vor Veränderungen!
- Wir freuen uns auf die Zukunft!
- Wir wissen wer wir sind und was wir können!
- Wir können uns auch vergeben!
- Auch falsche Entscheidungen hatten ihren Sinn!
- Wirkliche Veränderung gibt es nur, wenn sie von uns selber kommt!
Zusammenfassung
Mit diesen Werten stellt das chronisch aufgetaute System nach Weick keine Gefahr mehr dar. Das Unternehmen tauscht organisatorische Flexibilität gegen kulturelle Freiheit von Angst. Letztendlich liegt daran der Sinn einer jeden organisatorischen Veränderung. Mit der Überwindung von Vorbehalten und Ängsten, lernt das Unternehmen Veränderungen offen und positiv gegenüber zu stehen. Einer unsicheren Zukunft mit Sicherheit zu begegnen. Stolz auf Fehlentscheidungen und Versagen zu sein. Dem eigenen Bauch zu vertrauen und mit dem Wissen das es nur selten Probleme gibt, die nicht lösbar sind. Angelehnt an Weick, könnte somit ein agiles Unternehmen auch als „chronisch angstfreies System“ bezeichnet werden.
Der Sinn der Unternehmung rekonstruiert sich dann durch zurückliegende Veränderung und das damit verbundene Selbstvertrauen. Das ermutigt wiederum Mitarbeiter selbstbewußt Entscheidungen zu treffen und fördert den Entdeckergeist. Somit ist der Ruf nach mehr Flexibilität ein falscher Freund des agilen Wandels.
Lieber Stefan Müller ein gelungener Artikel: Ich kann dem Satz: „Natürlich können hier Scrum, Kanban und andere Methoden Ihren Beitrag leisten. Der Mensch neigt allerdings dazu Unsicherheit und Angst durch Methodik eliminieren zu wollen.“ nur zustimmen.
Immer öfter erlebe ich, dass diese Methoden als die neuen Heilsbringer in der „Techi-Szene“ hoch gehalten werden. die Wahrheit ist, dass Wandel und gerade ständiger Wandel eine echte Herausforderung für das People Management ist.
Hallo Frau Franken,
es freut mich, dass Ihnen mein Beitrag zum Thema People Management gefallen hat. Methoden sind eben nicht alles. Auch wenn es für manche HR Abteilungen womöglich schwer umzusetzen ist, sind Einfühlungsvermögen, Menschenkenntnis und vorallem die Freiheit von Angst ein zentraler Faktor, um dem ständigen Wandel zu begegnen.
Viele Grüße
Stefan Müller